Reiseberichte: Melvillebucht 2009

Gestrandet in der Arktis

Text und Fotos: Markus Ziebell

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Ende Juni 2009 ist es endlich so weit. Nach 5-monatiger Planung stehen wir, Michael Kujawaund ich, mit unseren über 100 kg schwer beladenen Kajaks, am felsigen Strand vonUpernavik, dem Startpunkt unserer Kajakexpedition im Nordwesten Grönlands. Vor uns liegteine Gesamtstrecke von 900 km durch zum größten Teil unbewohnte Arktis.

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Schon 6 Wochen vorher sind unsere Kajaks mit der gesamten Ausrüstung und Verpflegungfür 35 Paddeltage von Aalborg in Dänemark per Schiff auf die Reise gegangen. Mit unseren Kajaks wollen wir Richtung Norden starten und die Melvillebucht, eine gut 300 km lange, völlig unbewohnte Region durchqueren und im Anschluß bis nach Thule der nördlichsten Stadt Grönlands vorstoßen. Die Melvillebucht selber besteht aus einer nahezudurchgängigen Gletscherabbruchkante, mit sehr wenig vorgelagerten Inseln. In diesem Bereich ist ganzjährig massiv mit Eisbergen und Packeisfeldern zu rechnen.

Von Beginn an haben wir viel Glück mit dem Wetter. Windstille und 24 Stunden Sonne pro Tag lassen uns gut vorankommen. In Tuvsaq, einer kleinen Geisterstadt dann aber der erste Schock. Beim ersten Funktionstest von unserem nagelneuen Gewehr, das wir zur Abwehr von Eisbären dabei haben, stellt sich heraus, das es gar nicht funktioniert. Beim Kauf in Ilullissat hat man uns offensichtlich eine Flinte ohne Schlitten, der die Kugel im Lauf sichert, verkauft. Doch wir haben Glück und bereits eine Tagesetappe weiter können wir in Ivnarsuit, die Waffe gegen ein altes, aber funktionstüchtiges Gewehr Kaliber 3006 incl. Munition tauschen. Aus dem geplanten durchschnittlichen Tagessoll von 25 km werden an den meisten Tagen 40-50 km. Dies ist aber auch notwendig um für Schlechtwetterperioden genügend Reserven zu haben. Auf dem ersten rund 300 km langen Teilstück bis Kullorsuaq paddeln wir durch eine dichte Inselwelt. Aber auch hier queren wir zum Teil dichte Felder gigantischer Eisberge. Bereits nach einer Woche stehen wir am Eingang zur Melvillebucht und dürfen den Blick auf eine riesige Abbruchkante werfen. Das Inlandeis wälzt sich hier aus über 1000 m Höhe ins Meer.

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Bis zum Horizont erstrecken sich die Eisfelder, so das wir selbst von den höheren Inseln aus nur schwer abschätzen können, an welcher Stelle wir Land erreichen können. Beim Versuch den Nansen- und Nordenskjöldgletscher zu passieren, geraten wir nach 50 km Fahrt einige Kilometer vor der Küste in dichte Eisfelder. Zunächst finden wir immer wieder kleine Kanäle, durch die wir uns mit unseren schmalen Kajaks hindurchzwängen können. Dann aber wenige hundert Meter vor dem angepeilten Ufer ist Schluß. Die Eisflächen sind vom Wind hier so weit zusammengetrieben worden, das es kein offenes Wasser mehr gibt. Die Schollen sind zu dünn, als das wir aussteigen und die Boote ziehen könnten. Wir drehen um und versuchen die Eisfelder weiträumig zu umgehen. Aber immer wieder geraten wir in dichtes Eis das uns die Durchfahrt verwehrt. So geben wir schließlich nach einigen Stunden die Suche nach einer Passage auf und paddeln in dieser Nacht noch einmal 30 km zurück bis zur letzten eisfreien Insel. Nach 17 1/2 Stunden im Boot und 80 km Paddelstrecke lassen wir uns dort am frühen Morgen ziemlich frustriert und entkräftet anspülen.

Nach einem Pausentag starten wir dann Plan B. Etwa 50 km vor der Abbruchkante haben wir auf der Karte einige kleine Inseln entdeckt. Wir hoffen, das hier die Möglichkeit besteht anzulanden und damit den zentralen Bereich der Melvillebucht zu überbrücken. Nach gut 45 km werden wir zum ersten mal enttäuscht, als sich die Insel Ajakos Skaer lediglich als Ansammlung von kleinen flachen Felsen erweist, die kaum höher als die Wellen sind. So müssen wir weitere 30 km paddeln, bis wir einen breiten Kiesstrand der Insel Thom erreichen. Hier mitten im zentralen Bereich der Melvillebucht feiern wir in den 43 Geburtstag von Michael hinein. Ein schöneres Geschenk kann man sich wohl kaum vorstellen. Und so genießen wir vom knapp 100 m hohen Gipfel den einzigartigen Rundblick über die eisige Szenerie.

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Bereits 3 Tage später erreichen wir die Insel Kap Melville und damit das Ende der Gletscherfront. Hier nur 35 km entfernt von der ersten Siedlung campieren wir an steiler Felskante inmitten von Geröllfeldern.

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Über Nacht nimmt der Ostwind zu. Vom Inlandeis kommen starke Fallwinde, sogenannte Piteraks. Da wir bereits eine Woche Reserve heraus gepaddelt haben, machen wir einen Tag Pause.

Als wir am nächsten Morgen zu unseren Booten wollen ...sind die Boote nicht mehr da! Sie lagen angebunden etwa vier Meter oberhalb der Flutlinie auf der windabgewandten Steilküste. Geschockt suchen wir lange die Küstenlinie ab, in der Hoffnung die Boote irgendwo zu finden, bis uns langsam die ganze Tragweite bewußt wird. Mit den Booten haben wir leider auch unsere gesamte Ausrüstung mit Ausnahme von Zelt, Isomatten und Schlafsäcken verloren. Unglücklicherweise befand sich auch unser Satellitentelefon sicher verpackt im Boot und jetzt vermutlich auf dem Weg Richtung Kanada. Um nicht Eisbären zum Zelt zu locken hatten wir auch jeglichen Proviant in den Booten verstaut. So stehen wir nun vor zwei schwierigen Aufgaben. Zum Einen müssen wir versuchen auf uns aufmerksam zu machen und zum Zweiten müssen wir so lange am Leben bleiben, bis Hilfe kommt. Wie wir es aus zahllosen Hollywoodstreifen kennen, legen wir zunächst in 15 m großen Buchstaben aus dunklen Steinen SOS in ein größeres Schneefeld. Dies sollte vom Flugzeug oder Hubschrauber gut zu erkennen sein hoffen wir. Doch nach wenigen Stunden müssen wir frustriert feststellen, das sich die Steine in der Sonne erwärmen und im Schnee einsinken, bis sie nicht mehr zu sehen sind.

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Aus einem unserer Packsäcke basteln wir eine Fahne und stellen Sie auf den höchsten Punkt der Insel. Doch leider ist die Fahne so klein, das wir sie, selbst von unserem Camp aus, kaum noch erkennen können.

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Auf unseren Streifzügen über die Insel probieren wir unterschiedlichste Pflanzen um unseren Hunger zu stillen. Neben angspültem Seetang ernähren wir uns die nächsten Tagen vor allem von Grassamen, die etwas nussig schmecken und damit sicherlich Fett enthalten.

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Aus einem alten Nagel, etwas Alufolie und einer Münze basteln wir uns eine Angel, aber im flachen Wasser um die Insel haben wir auch damit kein Glück.

Da sowohl der nächste Ort Savigsivik als auch wir uns auf einer Insel befinden, haben wir keine Möglichkeit zu Fuß dorthin zu gelangen. Wir finden eine kleine Schutzhütte, die von den Inuit währen der Jagd im Winter genutzt wird. Wir hoffen, das diese auch im Sommer von den Einheimischen genutzt wird. Die letzten Notizen an den Wänden sind allerdings bereits drei Jahre alt und machen uns wenig Hoffnung.

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Wir verlegen unser Lager direkt zur Schutzhütte, stellen eine Fahne auf und hängen ein Schild über die Tür um etwaige Retter nicht zu verpassen.

In den nächsten Tagen merken wir bereits, wie durch den Hunger unsere Kräfte schwinden und all unsere Bewegungen verlangsamen. Vor allem nachts quält uns der Hunger und die Gedanken kreisen stetig um zwei alles entscheidende Fragen: „In wie viel Tagen, Wochen oder Monaten kommt hier der nächste Mensch vorbei ?“ und „Wie lange überlebe ich ohne Nahrung ?“ Tagsüber schaffen wir es glücklicherweise, uns mit diversen Aufgaben zu beschäftigen, so das die Stimmung zwar gedrückt ist, aber trotz der enormen Spannung nie Streit aufkommt. Nach wie vor sind wir durch ein gemeinsames Ziel fest verbunden. Wir wollen überleben!

Immer wieder bilden wir uns ein, in der Ferne die Geräusche von Motorbooten zu hören, doch sehen können wir sie nicht.

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Nur ein paar hundert Meter von der Schutzhütte entfernt finden wir ein paar verlassene Sodenhäuser. Die Decken sind inzwischen allesamt eingestürzt, aber man kann sich noch gut vorstellen wie man früher hier wohl gelebt hat. Zwischen den Steinhaufen finden wir auch einige Überreste der letzten Bewohner. So wollen wir definitiv nicht enden.

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Als wir nach 3 Tagen morgens aus der Schutzhütte treten, trauen wir unseren Augen kaum: Nur wenige Meter vor uns liegt plötzlich ein Inuit-Kajak!

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Jemand muss unbemerkt in der Nacht auf der Insel gewesen sein und es hier abgelegt haben. Wir sind sicher, das der Jäger bald zurückkehrt um das Boot zur Jagd zu nutzen. Nachdem wir einen Tag gewartet haben beschließen wir, ein Paddel und Spritzdecke zu basteln um die Möglichkeit einer Selbstrettung zu testen. Aus herumliegendem Holz und ein paar alten Nägeln gelingt es uns, ein etwa 5 kg schweres Notpaddel und aus einem Plastiksack eine Spritzdecke zu basteln.

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Am nächsten Tag stellen wir bei einer kleinen Probefahrt fest, das dieses Boot sehr stabil im Wasser liegt und wir uns beide eine Überfahrt vorstellen können. Da ich als einziger über einige Dänischkenntnisse verfüge, mache ich mich am fünften Tag nach dem Verlust der Boote auf ins 35 Kilometer entfernte Savigsivik. Fast scheitere ich bereits an dem Ring aus Eisbergen, der sich durch den tagelangen Ostwind um unsere Bucht gelegt hat. Nach langem Suchen finde ich zwischen zwei steil aufragenden Eisbergen eine schmale Rinne, die gerade breit genug ist für das Kajak. „Wenn hier jetzt was abbricht..“denke ich noch und bin im nächsten Augenblick bereits in freiem Wasser.

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Da ich über keinerlei Kälteschutzkleidung mehr verfüge wäre jede Kenterung mit ziemlicher Sicherheit tödlich. So bin ich bei jedem Abbruch der zahllosen Eisberge doppelt nervös wegen der Flutwellen. Das Paddel, was bereits im trockenen Zustand 5 kg wog, erfordert viel Kraft in der Schulter. So muss ich jeweils nach ca. 100 Zügen das Paddel kurz ablegen. Trotzdem gleitet das schmale und leichte Boot zügig voran und ich erreiche nach 6,5h unbeschadet die Siedlung. Beim Aussteigen verliere ich einen meiner Packsäcke, die mir als Stiefel dienten und steige ins eisige Wasser. Zu diesem Zeitpunkt spielen die nassen
Klamotten aber keine Rolle mehr. Denn ich bin in Sicherheit! Schnell finde ich jemanden, dem ich mein Problem schildern kann. Er verspricht uns zu helfen. Allerdings sieht er wegen der heutigen Konfirmationsfeierlichkeiten erst für den folgenden Tag die Chance ein Boot zu schicken. So werde ich zunächst mit Kaffee und Torte versorgt. Als wir uns dann über den Preis für die Rettungsaktion einig sind, geht zu meiner Überraschung alles doch ganz schnell. Nur eine halbe Stunde nach meiner Ankunft sitze ich bereits mit einem der Jäger im Motorboot auf dem Weg zurück zu Michael. Als wir dann beide mit unserem verbliebenen Hab und Gut im Boot sitzen, lässt sich der Motor nicht mehr starten. Für kurze Zeit scheint es fast, als würden wir weiterhin hier festsitzen. Nur jetzt zu dritt. Aber nach mehrfachem Herausschrauben und Trocknen der Zündkerzen hören wir ein beruhigendes Tuckern. Auf der Rückfahrt stoppen wir wieder, um nach Robben Ausschau zu halten, aber der Jäger hat heute kein Jagdglück und so erreichen wir nach einer knappen Stunde gemeinsam endgültig die rettende Zivilisation.

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Obwohl das abendliche Feuerwerk und die Tanzveranstaltung zu den Konfirmationsfeierlichkeiten gehören, fühlen wir uns ein bisschen wie Asterix und Obelix, die nach bestandenem Abenteuer in ihrem Dorf gefeiert werden. Immer wieder werden wir mit den wenigen Brocken Englisch, die die Leute beherrschen nach den Einzelheiten unseres Abenteuers gefragt. Nur das es hier statt Wildschwein rohen und verrotteteten Narwal, Robbenfleisch sowie Krabbentaucher als Festspeise gibt. Mein Magen tut sich noch etwas schwer mit diesen Leckereien, aber das ist nach einer solchen Diät wohl normal. Wir verbringen noch einige Tage in dieser kleinen Jägersiedlung bis wir mit Hilfe der Inuit unsere Reise an der Küste entlang bis nach Thule fortsetzen können. Jetzt aber im Motorboot.

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Unsere Kajaks aber bleiben bis zum heutigen Tag irgendwo zwischen Grönland und Kanada verschollen.

 

 

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